Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld

  Mehr Klassikerinnen!

Unter dem Motto Mehr Klassikerinnen widmet der Manesse Verlag sein komplettes Jahresprogramm 2022 Schriftstellerinnen der Weltliteratur mit sehr frisch wirkenden Neuübersetzungen, kommentiert von namhaften Autorinnen und Autoren und in gewohnt hochwertiger Ausstattung.

Nach Mrs. Dalloway von Virginia Woolf und Babettes Gastmahl von Tania Blixen war Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf (1858 – 1940) meine dritte Lektüre aus diesem Programm. Ein Wagnis insofern, als mir Gösta Berling überhaupt nicht zusagte und ich von Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen wegen der spürbar pädagogischen Absicht und Langatmigkeit nicht begeistert war. Mit Charlotte Löwensköld erging es mir nun völlig anderes. Dieses Spätwerk von 1925 der als erste Frau 1909 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autorin ist eine ebenso vergnügliche wie wendungsreiche Lektüre, die vor allem von starken Frauencharakteren und dem überragenden Erzähl- und Dramaturgievermögen von Selma Lagerlöf mit äußerst humorvollen Szenen und feiner Ironie lebt.

Inspiriert von einer wahren Geschichte
Charlotte Löwensköld
ist der mittlere Teil der värmländer Trilogie Die Löwenskölds, der sich jedoch problemlos seperat lesen lässt. Teil eins, Der Ring des Generals, ist eine Gespenstergeschichte, die von einem Ring als Ursprung allen Unglücks in der Familie Löwensköld erzählt. In Teil zwei, Charlotte Löwensköld, steht im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine junge Frau aus dem nichtadeligen, mittellosen Familienteil im Mittelpunkt. Sie ist über fünf Jahre mit dem Hilfspastor Karl-Artur Ekenstedt verlobt, dessen kluge, umschwärmte Mutter, die Oberstin Beate Ekenstedt, wiederum eine adelige Löwensköld ist. Karl-Artur ist der verwöhnte Augapfel seiner Mutter. Während seines Studiums wechselt er unter dem Einfluss eines pietistischen Kommilitonen gegen den Willen seiner Eltern zur Theologie. In der Probstei Korskyrka als Hilfspastor eingesetzt, lernt er Charlotte kennen, die als Gesellschafterin im Haus des Propstehepaars lebt.

© B. Busch

Gerne würde die intelligente, lebendige, charmante und bisweilen schelmische Charlotte ihren Langzeitverlobten endlich heiraten, doch verweigert der aus Gründen übersteigerter religiöser Askese den zur Gründung eines Hausstands nötigen beruflichen Ehrgeiz. Als er zudem unter den Einfluss der intriganten Organistenfrau Thea Sundler gerät und Charlotte einen Heiratsantrag des jung verwitweten, vermögenden Bergwerksbesitzers Gustav Schagerström erhält, gerät die Situation außer Kontrolle. Es beginnt eine immer rasantere Abfolge von Irrungen, Missverständnissen, Zufällen und Verwicklungen, so dass ich den Roman nicht mehr aus der Hand legen konnte. Liebend gerne hätte ich eingegriffen, um Charlotte vor drohendem Unheil zu bewahren. Letztlich habe ich sie, die den guten Ruf ihres selbstverliebten Verlobten und dessen gefährdetes Einvernehmen mit seiner Mutter über ihre eigenen Interessen stellt, unterschätzt:

Aber in Charlotte floss altes, schwedisches Adelsblut, und in ihrer Seele wohnte der rechte schwedische Wille, der edle, stolze Wille, dem eine Niederlage nichts anhaben kann, der vielmehr mit ungebrochenem Elan zu neuen Kämpfen aufspringt. (S. 413)

Zeitlose Themen im Gewand des 19. Jahrhunderts
Selma Lagerlöf porträtiert in Charlotte Löwensköld den Männern in Klugheit, Menschenkenntnis und Stärke überlegene, jedoch im Korsett ihrer Zeit gefangene Frauen und zeigt die Auswirkungen von selbstgerechtem, intolerantem religiösem Übereifer, bei dem Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.

Das sehr erhellende, feministisch grundierte Nachwort von Mareike Fallwickl diskutiert neben anderem die Auswirkungen mütterlicher Erziehung auf Söhne und die Grenzen, die auch einer erfolgreichen Frau wie Selma Lagerlöf zu ihren Lebzeiten gesetzt waren.

Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Mareike Fallwickl. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:

1926
1932
1954
2017
2021

 

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